WER UNTER EUCH OHNE SÜNDE IST, DER WERFE DEN ERSTEN STEIN
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr meßt, wird euch zugemessen werden. (Matthäus VII, l – 2)
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr. (Johannes, VIII, 3 ‐ 11)
„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ sagte Jesus. Dieser Grundsatz macht aus der Nachsicht eine Pflicht, denn es gibt niemanden, der sie nicht für sich selbst benötigt. Sie lehrt uns, dass wir den anderen nicht strenger verurteilen sollen, als wir uns selbst verurteilen und auch nicht den anderen richten, für das, was wir bei uns selbst entschuldigen. Bevor wir jemandem einen Fehler vorwerfen, sollen wir uns überlegen, ob dieser Fehler auf uns nicht selbst trifft.
Die Verurteilung des Verhaltens anderer kann zwei Gründe haben: das Übel zu beanstanden oder dem Ansehen der anderen Person, deren Verhalten wir kritisieren, zu schaden. Dieser letzte Grund hat niemals eine Berechtigung, denn er ist auf Verleumdung und Bosheit zurückzuführen. Der erste aber kann lobenswert und in manchen Fällen sogar eine Pflicht sein. Daraus kann etwas Gutes entstehen, denn ohne die Pflicht, das Übel zu tadeln, kann die Schlechtigkeit niemals aus der Gesellschaft verbannt werden. Soll der Mensch wahrhaftig seinesgleichen nicht zum Fortschritt verhelfen? Wir sollten also dieses Prinzip nicht wortwörtlich nehmen:
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (…) „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Jesus würde das Tadeln des Bösen nicht untersagen. Denn er selbst gab uns das Beispiel und tat dies sogar sehr energisch. Er wollte dennoch damit sagen, dass das Recht der Verurteilung im direkten Verhältnis zu der moralischen Aussagekraft desjenigen steht, der sie verkündet. Und wenn man sich an dem, was man an anderen verurteilt, selbst schuldig macht, verzichtet man zwangsweise auf das Recht, andere zu beanstanden. Das innerste Gewissen weigert sich ferner jeglichen Respekt und jede freiwillige Unterwerfung demjenigen zuzugestehen, der in der Ausübung seiner Macht, das Gesetz und die Prinzipien verletzt, die er selbst vorgeschrieben hat. Das einzige berechtigte Ansehen vor Gottes Augen ist das, was sich auf das Gute stützt. Das ist eine Schlussfolgerung aus der Lehre von Jesus.
Das Evangelium im Lichte des Spiritismus – Kap. X – 11, 12, 13
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